Seit April 2022 ist Joachim Schönbeck der CEO der Andritz AG. Er erklärt, wie der Konzern der Krise trotzt, was Europas Industrie braucht und wie es ist, in große Fußstapfen zu treten.
ZUR PERSON
Joachim Schönbeck, geb. 1964, kam 2014 nach Österreich und zog in den Vorstand der Andritz AG ein. Im April des heurigen Jahres folgte er Wolfgang Leitner, der auch größter Andritz-Aktionär ist, als CEO nach. Schönbeck hatte davor Top-Managementpositionen in den deutschen Technologiekonzernen Mannesmann, Siemens und SMS Holding inne. Schönbeck wohnt in Graz, die Ehefrau und die erwachsenen Kinder blieben in Deutschland. Man pendelt. Der Andritz-Boss ist auch deutscher Honorarkonsul für die Bundesländer Steiermark und Kärnten.
trend: Herr Schönbeck, Sie sind deutscher Honorarkonsul für die Länder Steiermark und Kärnten. Dürfen wir Sie zu Beginn fragen, was man da eigentlich tut?
Joachim Schönbeck: Sie werden sich wundern, was wir alles tun. Wir haben hier in Graz ein Büro, das an vier Tagen pro Woche geöffnet ist, und vergeben Slots an Besucher im Zehn-Minuten-Takt. In Österreich leben 350.000 deutsche Bürger, die wollen Pässe, Ein- oder Ausbürgerungen, notarielle Bestätigungen oder Unterstützung bei Erbschaften. Vermutlich hat es auch mit der wachsenden Bürokratisierung in vielen Bereichen zu tun, dass man immer mehr Unterschriften von uns braucht.
Pflegen Sie dann auch im Unternehmen eher diplomatische Umgangsformen?
Ich versuche, höflich zu sein. Aber ich bin eher ein Freund des direkten Wortes.
Die Industrie stöhnt derzeit laut unter den hohen Energiekosten. Ist das auch für die Andritz AG das beherrschende Thema?
Es ist ein wesentliches, aber vielleicht nicht das beherrschende. Als Maschinenbauunternahmen verbrauchen wir nicht so viel Strom und Gas wie viele unserer Kunden, zum Beispiel die Papierindustrie. Aber die Energiepreise schlagen natürlich direkt auf unsere Vormaterialien durch. Die Maschinen, die Andritz baut, bestehen ja vorrangig aus Stahl, dessen Preis auf einem historischen Rekordhoch liegt. Die Nachfrage ist zwar etwas zurückgegangen, aber auch das Angebot, weil viele Hochöfen in Europa abgeschaltet wurden. Von unseren Kunden haben wir überwiegend Festpreisaufträge. Wenn es also im Laufe der Projektabwicklung zu großen Preisausschlägen kommt, müssen wir damit umgehen.
Kann man in solchen Fällen nachverhandeln?
Eher nicht. Der Bäcker, der Ihnen ein Brötchen für 30 Cent verkauft, kann auch nicht, wenn's zum Zahlen kommt, plötzlich 40 Cent verlangen. In wirklichen Notlagen sind Nachverhandlungen möglich. Aber normal tun wir das nicht. Schlimmer ist die Unsicherheit über die weitere Entwicklung, die die Wirtschaft hemmt. Aber das ist ja genau, was politisch von russischer Seite gewollt ist - die Spannung aufrecht zu erhalten.
Sie unterstützen die von zahlreichen Unternehmen oder auch der Industriellenvereinigung verlangte Kompensation der Energiekosten durch den Staat?
Im gebotenen Umfang, ja. Aber staatliche Subventionen sind immer ein zweischneidiges Schwert, mit dem man vorsichtig umgehen muss. Entscheidend ist die Perspektive. Ich glaube, dass die Unternehmen über einen kurzen Zeitraum hohe Energiekosten verkraften können. Wenn die Situation allerdings lange anhält, müssen wir Sorge tragen, Österreich, Deutschland oder Italien nicht weiter zu deindustrialisieren. Andernfalls wäre der Schaden sehr, sehr groß. Wenn Unternehmen erst einmal in Insolvenz sind, ist ja die Frage, was noch zu retten ist. Das zu verhindern, ist Aufgabe der Politik. Dafür halte ich auch staatliche Subventionen für gerechtfertigt.
Oder einen Eingriff für die Energiemärkte?
Ich habe nicht den Eindruck, dass sich der in stabilen Zeiten etablierte Preisbildungsmechanismus für Strom in Krisenzeiten bewährt. Die Frage ist, ob man von einem staatlichen Eingriff sprechen kann, wenn man den ändert. Wir tun gut daran, wenn wir die Deindustrialisierung Europas nicht weiter befeuern, sondern einfach machen, was nötig ist, damit alle die Krise gut durchstehen können.
Was kann denn Politik wirklich tun, um diese reale Gefahr der Deindustrialisierung abzuschwächen?
Also für uns ist am wichtigsten, wenn sie den globalen Handel fördert, ein gutes Verhältnis zu vielen Ländern hat, damit wir möglichst ohne Handelsbarrieren liefern und leisten können. Die freie Beweglichkeit sowohl von Gütern als auch von Personal muss gewährleistet sein. Dass wir eine Arbeitserlaubnis brauchen, wenn wir einen Kollegen aus Brasilien für eine dreimonatige Schulung holen, und die uns verwehrt wird, weil man befürchtet, dass der Arbeitsplatz eines Österreichers verloren geht, ist das sicher nicht förderlich für den Standort Österreich.
Reicht freier Handel?
Energie wird, selbst wenn sich die Lage halbwegs normalisiert, in Europa dauerhaft teurer bleiben als in den USA und in Asien. Dieser Wettbewerbsnachteil wird ja bleiben. Kann sein, muss aber nicht. Ich glaube, dass in nächster Zeit Energie in Europa teurer sein wird. Aber wenn die Energiewende, wie wir sie jetzt einleiten, abgeschlossen ist, werden wir sehr viel preiswertere Energie erzeugen. Das wird nicht in drei und auch nicht in fünf Jahren sein, muss aber langfristig gelingen. Preiswerter grüner Strom ist die Voraussetzung.
Die Sorge, dass Investitionen zunehmend außerhalb Europas getätigt werden, weil sie sich anderswo schneller rechnen, haben Sie nicht und werden das auch bei Andritz nicht forcieren?
Die Gefahr ist da, aber ich glaube, die Politik hat sie erkannt. Jetzt geht's darum, die richtigen Punkte zu setzen, damit das so nicht passiert. Aus meiner Sicht ist der Trend zur Deglobalisierung genau der falsche Weg. Kurzfristig mag er gut erscheinen, um dem Standort Österreich oder Deutschland vielleicht schnell zu helfen. Es wäre jedoch ein Pyrrhussieg, weil die Wettbewerbsfähigkeit damit eingeschränkt würde. Ich glaube, Globalisierung ist immer noch der Schlüssel, um den Wohlstand in der Welt zu mehren, weil ich halt viel mehr Volkswirtschaften in die Wertschöpfungskette mit einbeziehe. Wenn wir das stoppen, wird es für uns schlechter, und viele Schwellenländer werden ebenso darunter leiden.
Deglobalisierung ist hauptsächlich wegen der geopolitischen Spannungen ein Thema. Weil man mit Russland und Herrn Putin keinen freundschaftlichen Umgang pflegen kann und möglicherweise auch mit China weniger zu tun haben möchte. Oder nicht?
Was uns aufgezwungen wird, können wir nicht ändern. Aber wir dürfen nicht selbst auf den Pfad der Isolation einschwenken. Wenn wir mit möglichst vielen Ländern ein freundschaftliches Verhältnis haben, dann ist allen geholfen. Wir müssen immer gesprächsoffen sein, dürfen auch nicht die Grenzen zumachen und nach Protektionismus schreien. Wenn andere es tun, ist das schlimm genug.
Das Russland-Geschäft hat Andritz eingestellt oder nur zurückgefahren?
Die Sanktionen tragen wir vollständig mit. Wo wir dürfen, werden Projekte noch fertiggestellt oder Serviceeinsätze gemacht. Aber es ist ja in jeder Hinsicht schwierig: dorthin zu reisen, Geld zu transferieren, Waren ein- und auszuführen. Und es gibt auch kaum noch Mitarbeiter:innen, die bereit sind, das zu tun. Von daher würde ich sagen: Das Geschäft ist eingestellt.
Haben Sie sich auch mittelfristig auf den Ausfall von Russland eingestellt?
In der Planung haben wir eine Null. Wir hatten hohe Bestände an Aufträgen, die sind alle abgeschrieben. Aber wenn wir wieder ein Verhältnis mit Russland haben, das Geschäft zulässt, freuen wir uns. Wir haben ja teilweise Kunden, mit denen Andritz seit über 100 Jahren zusammenarbeitet. Das hat zwei Weltkriege überlebt.
Durch die Inflation werden die Löhne im Zuge der aktuellen Metaller-KV-Verhandlungen ein ordentliches Stück nach oben gehen. Eine weitere Beeinträchtigung der Wettbewerbsfähigkeit am Standort?
Natürlich. Das ist sicher eine riesige Gefahr, vor allem für das Land, weniger für Andritz. Die Inflation ist ja tatsächlich ein länderspezifisches Problem. In Europa und den USA ist sie sehr hoch, in Japan und China kaum existent. Dadurch verschiebt sich was; das müssen wir fest im Auge behalten. Die Kollegen auf der Arbeitgeberseite werden das in den KV-Verhandlungen bestimmt auch tun.
Im Vergleich zu anderen trotzt Andritz der Krise gut, wie ein Blick auf das Halbjahresergebnis zeigt. Kommt das von den verstärkten Investitionen in erneuerbare Energien, für die Ihr Konzern zuliefert?
Kann man so sagen. Wasserkraft muss ja einen erheblichen Beitrag zur Energiewende leisten. Diese Sparte hat sich wieder deutlich erholt. Nachdem wir seit 2012 einen Marktrückgang von rund 30 Prozent hatten, sind jetzt viele Projekte vergeben worden, und wir haben viele davon bekommen. Zellstoff und Papier sind ebenfalls ein unglaublicher Wachstumsmarkt. Wir glauben, dass Zellstofffasern eine sehr große Rolle für Dekarbonisierung und Kreislaufwirtschaft spielen werden, weil sie für Verpackungen derzeit die einzig verfügbare Alternative zu Kunststoff sind. Bei Maschinen für konsumnahe Produkte wie etwa Hygienepapiere merken wir hingegen schon die rückläufigen Märkte.
Und beim Andritz-Tochterunternehmen Schuler, das die nicht gerade boomende Autoindustrie beliefert?
Schuler ist auf einem guten Weg, weil die Autoindustrie investiert. Die Verkaufszahlen boomen nicht, aber die Investitionen in die technologische Wende zur Elektromobilität werden getätigt.
Noch einmal kurz zur erneuerbaren Energie: Müsste man für deren Ausbau nicht viel rascher in die Gänge kommen?
Es wird zwar viel geredet über Unabhängigkeit von russischem Gas, aber wenn's um konkrete Projekte geht - etwa ums Kaunertaler Kraftwerk -, ist von Beschleunigung nichts zu merken. Wir stehen bereit, aber man kann halt nur machen, was sich auch politisch durchsetzen lässt. Solche Projekte müssen vor Ort in den Regionen mit den Beteiligten erarbeitet werden. Wenn man die Leute nicht mitnimmt, regt sich schnell Protest - nicht nur gegen Wasserkraft, es will ja auch keiner ein Windrad vor der Tür haben. Die Einstellung "Wasch mich, aber mach mich nicht nass!" haben viele. Deswegen ist es wichtig, dass man es nicht top-down vorschreibt, sondern die Lokalpolitik das Thema von unten vernünftig vorantreibt. Die Dinge dauern bei uns natürlich länger als beispielsweise in China. Aber ich glaube, wir sind alle ganz froh, dass wir unser System haben.
Nur läuft die Zeit davon.
Irgendwann wird man von oben mal entscheiden müssen. In Notsituationen kann man das machen. Ich glaube aber, diese Notsituation haben wir noch nicht erreicht.
Ein Aspekt von Krisen ist, dass sie für starke Player wie Andritz zweifellos einer ist, Möglichkeiten für Zukäufe bieten, weil Märkte konsolidiert und oft neu verteilt werden. Ist es Teil der Konzernstrategie, das jetzt zu nutzen?
Sie wissen, dass Akquisitionen zur DNA der Andritz gehören. Wir haben im Durchschnitt drei bis fünf Übernahmen pro Jahr gemacht und werden diese Strategie weiter verfolgen. Wir sind an sich aber nicht darauf spezialisiert, Unternehmen in der Not zu kaufen. Sondern wir kaufen lieber Unternehmen, die gut zu uns passen, einen Mehrwert Richtung Kunden schaffen können - und mit uns mehr Potenzial haben als alleine. Für uns ist derzeit eher entscheidend, dass jetzt die Zinsen steigen und Wettbewerber aus dem Private-Equity-Sektor dadurch nicht mehr so hohe Preise zahlen können. Das bringt uns ein bisschen Entspannung.
Fast jedes Unternehmen in Österreich klagt über Personalmangel, das wird bei der Andritz AG ähnlich sein. Mit welchen akuten, aber auch langfristigen Maßnahmen möchten Sie das Problem zu entschärfen?
Akut haben wir unser Recruiting-Team aufgestockt und professionalisiert, vor allem in Bezug auf Social Media - es läuft ja heute fast alles übers Handy. Wir haben auch unsere Aktivitäten Richtung Universitäten verstärkt, was sich als recht erfolgreich erweist. Und wir haben ein Prämiensystem eingeführt: Wenn jemand einen neuen Mitarbeiter bringt, gibt es 2.500 Euro, unabhängig davon, ob es sich um eine Spitzenkraft oder einen Arbeiter handelt.
Wenn Sie in die nahe Zukunft schauen: Viele heimische Betriebe erwarten nichts Gutes vom 2023. Sie auch? Oder wird Andritz die jetzige Flughöhe halten können?
Wir bereiten uns darauf vor, dass es runtergehen kann, aber kämpfen dafür, dass es gut bleibt. Wir haben den Vorteil eines Rekordauftragsstands von knapp zehn Milliarden Euro. Das ist ein kleines Polster -aber nur für neun bis zwölf Monate. Die großen Treiber des Geschäfts bei Andritz sind die Kreislaufwirtschaft bzw. die Energiewende insgesamt. Wenn diese langfristigen Faktoren kommen - und da sind wir zuversichtlich -, gibt es auch Geschäft für uns. Und einen Durchhänger von einem Jahr können wir finanziell überleben.
Wenn Sie in die fernere Zukunft schauen: Andritz feiert gerade den 170. Geburtstag. Was ist die Herausforderung bis zum 200er?
Aus meiner Sicht wird es in Europa und den USA der Rückgang bei den Arbeitskräften sein. Darauf haben wir uns einzustellen. Wir müssen die Digitalisierung forcieren, um die Auswirkungen möglichst gering zu halten. Aber man wird halt nicht alles vom Handy oder PC aus machen können, wir brauchen die Leute, die vor Ort etwas zusammenschweißen können. Die Herausforderung ist, dass die das auch gerne machen. Derzeit wird es nicht als besonders attraktiv erachtet, wie wir auch in der Besetzung unserer Lehrstellen merken. Außerdem müssen wir Sorge tragen, dass trotz Digitalisierung der soziale Austausch nicht verloren geht. Wir betreiben überwiegend Projektgeschäft. Der dafür notwendige Teamgeist ist ohne physisches Zusammenkommen nicht zu entwickeln. Die ganze große Herausforderung der nächsten 30 Jahre wird aber sein, unseren Wohlstand auf dem gewünschten Niveau zu halten, ohne dabei die Erde zu zerstören. Dafür brauchen wir noch viel mehr gute Technologie, als wir heute haben - mit einem Beitrag von Andritz. Wir erzielen jetzt schon 40 Prozent des Umsatzes mit nachhaltigen Technologien - und werden das noch steigern müssen, damit wir als Gesellschaft unsere Ziele erreichen.
Also mehr Wasserkraftwerke und Maschinen für holzbasierte Verpackungen usw.?
In erster Linie geht es um erneuerbare Energien, aber auch um Anlagen zur Abscheidung von CO2, um Biomasse-Heizanlagen und alles, was für Kreislaufwirtschaft gebraucht wird. Auch die Wasserstoffelektrolyse wird eine wichtige Rolle spielen-sobald sich die Strompreise wieder normalisieren.
Abschließend noch kurz zur Ihrer Person: Sie haben ja eine schwierige Aufgabe bei Andritz übernommen, indem Sie einem CEO nachfolgten, der erstens 28 Jahre lang das Gesicht des Unternehmens war und zweitens auch noch der größte Aktionär ist. Dürfen Sie trotzdem unbehelligt arbeiten?
Ja, das darf ich, auch mein gutes Verhältnis zu Wolfgang Leitner hat unter der neuen Rollenverteilung nicht gelitten. Und so schwierig ist die Aufgabe gar nicht, weil keiner erwartet, dass ich's besser mache als er, und alle froh sind, wenn ich's nicht viel schlechter mache.
Sie sind seit 2014 in Österreich. Was gefällt Ihnen hier besonders gut? Und was stört Sie?
Ich könnte jetzt gar nicht sagen, was mir nicht gefällt. Gerade Graz ist eine sehr lebenswerte Stadt. Ich fühle mich wohl in Österreich und schätze besonders, dass die Tatsache, aus Deutschland zu kommen, keine große Rolle dabei spielt, was ich bei Andritz mache. Das hatte ich anders erwartet.
Krisengewinner Andritz
Rückenwind durch verstärkte Investitionen in erneuerbare Energien.
Der Anlagenbauer Andritz konnte im 1. Halbjahr 2022 seinen Gewinn um 22 Prozent auf 167 Millionen Euro steigern. Im Unterschied zu vielen anderen Industriebetrieben läuft es aber auch noch gut weiter. Der Auftragseingang erhöhte sich um ein Drittel auf den Rekordstand von 9,9 Milliarden Euro. Hauptverantwortlich dafür ist der Aufschwung bei neuen Wasserkraftprojekten. Auch bei Anlagen für die gebeutelte Papier-und Zellstoffindustrie ist man bei Andritz optimistisch, da Kunststoffverpackungen zunehmend ersetzt werden. Kunden sind u. a. auch die Auto-, Stahl-, Glas und Pharmabranche. 2021 wurden 6,5 Milliarden Euro umgesetzt und 27.100 Mitarbeiter an 280 Standorten beschäftigt.
Das Interview ist der trend. PREMIUM Ausgabe vom 14.10.2022 entnommen.