Caritas Österreich Präsidentin Nora Tödtling-Musenbichler
©APA/HELMUT FOHRINGERCaritas-Präsidentin Nora Tödtling-Musenbichler im trend. Interview über Solidarität in Zeiten multipler Krisen, Sozialarbeit auf der Höhe der Zeit und ihre konkreten Forderungen an die Regierung.
Sie gelten als ausgewiesene Sozialexpertin, haben sich schon in der Schule für soziale Gerechtigkeit starkgemacht. Woher kommt Ihre soziale Ader, woher die Motivation für diesen Berufsweg?
Ich hatte von klein auf Menschen, die mir gezeigt haben, dass jede und jeder etwas beitragen kann, um Menschen in Not zu helfen. Und dass Armut und Wohlstand oft sehr nah beieinanderliegen, wir aber etwas bewirken können, wenn wir das wollen. Die Bedürfnisse jener, die Hilfe brauchen, und jener, die täglich helfen – die Mitarbeiter:innen –, auf politischer Ebene einbringen zu können, ist für mich ein großes Privileg.
Sie sind die erste Frau an der Spitze der Caritas Österreich. Wie schaut der „weiblichere“ Weg aus, der mit Ihnen angekündigt wurde?
Es geht mir einerseits darum, aufzuzeigen, was schon da ist: nämlich, dass die Caritas schon jetzt großteils weiblich ist – in unseren Einrichtungen, in der Freiwilligenarbeit, im Office, aber auch in den Führungsebenen. Gerade in der Pflege und Betreuung sind viele Frauen tätig, die Vollzeit arbeiten wollen, aber es nicht können, weil es zu wenig Kinderbetreuungsplätze gibt. Hier startet oft ein Teufelskreis: Armut ist weiblich. Dort als Frau selbst hinzuschauen und Maßnahmen zu setzen, ist mir ein großes Anliegen.
So, wie die Welt gerade aussieht, gehen der Caritas die Jobs nie aus: Inflation, Migration, Klimakatastrophe, Ukraine-Krieg, Nahostkonflikt – wie lassen sich, angesichts dieser besorgniserregenden Gleichzeitigkeit diverser Krisen Hoffnung und Zuversicht vermitteln?
Ja, wir leben in einer herausfordernden Zeit. Der Blick zurück zeigt aber, dass wir auch in der Vergangenheit große Hürden gemeistert haben – in Österreich, in Europa, aber auch weltweit, wenn ich etwa daran denke, dass wir Hunger trotz vieler Rückschläge maßgeblich reduzieren konnten. Erreicht haben wir diese Ziele mit Solidarität und dem Willen, das Gemeinsame in den Vordergrund zu rücken. Es geht darum, die Vielfalt als Stärke zu begreifen und die Chancen zu erkennen, die darin liegen. Und auch das Wissen, was gesellschaftlich auf dem Spiel steht, wenn wir das Trennende statt des Gemeinsamen in den Vordergrund rücken.
„Es g’hört viel mehr g’holfen!“ lautet der Claim der Caritas-Kampagne. Wie steht es in Zeiten multipler Krisen mit Solidarität und Nächstenliebe?
Für mich sind die 17.694 hauptamtlich und 46.000 freiwillig Engagierten in der Caritas der beste Beweis dafür, dass unser „Grundwasserspiegel der Nächstenliebe“ immer noch sehr hoch ist. Gerade in Krisenzeiten oder bei Katastrophen erleben wir, dass Menschen helfen wollen – in ihrer unmittelbaren Umgebung, aber auch über die Landesgrenzen hinaus. Die aktuelle Kampagne zielt darauf ab, Menschen für die Sozialbranche zu begeistern und dem Fachkräftemangel etwa in der Pflege und Betreuung entgegenzuwirken.
Die Caritas strebt an, „mit allen Menschen guten Willens zusammenzuarbeiten, an einer gerechten Welt mitzubauen“. Wie guten Willens ist denn die Politik aktuell?
Das Positive: Diese Bundesregierung hat in dieser Regierungsperiode vieles in Bewegung gebracht und auch einiges umgesetzt. Ich denke da an die Pflegereform, die Teuerungshilfen oder die Erhöhung der Mittel für humanitäre Hilfe. Gleichzeitig steigt der Druck aber gerade bei jenen, die schon vor Pandemie und Teuerungskrise benachteiligt waren. Im letzten Jahr haben wir allein bei den Caritas-Sozialberatungsstellen einen Anstieg von mehr als einem Drittel an Kontakten gesehen. Die neuen Armutszahlen der Statistik Austria bestätigen, dass wir hier ein strukturelles Problem haben, dem bisher auf politischer Ebene nicht ausreichend entgegengewirkt wurde.
Angesichts der veröffentlichten Zahlen zu Armut in Österreich 2023 haben Sie einen Weckruf für die Politik getätigt und eine Sozialstaatsreform gefordert. Wo sehen Sie die massiven Lücken im System?
Die Situation akut von Armut betroffener Menschen hat sich massiv verschärft – vor allem bei Kindern und Jugendlichen. Heute sind 336.000 Menschen in Österreich absolut arm – das sind 130.000 mehr als im letzten Jahr. Das zeigt: Unser Sozialsystem versagt dabei, Menschen vor Armut zu schützen, und schafft es noch weniger, den Teufelskreis der Armut zu durchbrechen. Was es hier braucht, sind strukturelle und nachhaltige Maßnahmen zur Armutsbekämpfung.
Diese soziale Strukturreform sei definitiv keine Frage des Könnens, sondern eine Frage des Wollens, sagen Sie. Dem steht das „Wer soll das bezahlen?“ der Wirtschaft entgegen.
Reformen hin zu einem stabilen und gerechten Sozialsystem sind im Sinne armutsbetroffener Menschen, aber auch im Sinne der Gesellschaft insgesamt. Und Fakt ist: Es gibt Menschen, die aufgrund ihrer finanziellen Situation mehr zum gemeinsamen Wohl beitragen können als andere. Gleichzeitig gibt es in Österreich aktuell eine deutliche Ungleichheit in der Besteuerung von Arbeit und Vermögen. Wer eine solidarische Gesellschaft will, muss bei einem gerechten Steuersystem ansetzen.
Armut ist längst in der Mittelschicht angekommen, viele Menschen können ihre Wohnungskosten nicht stemmen, die Zahl der armutsbetroffenen Kinder hat sich gegenüber dem Vorjahr verdoppelt. Der vom Kanzler vorgeschlagene „Burger“ als warme Mahlzeit ist wohl nicht die Lösung. Was fordern Sie ganz konkret von der Regierung?
Konkret braucht es drei Hebel: Erstens, die Ausgleichszulage – das ist der Mindeststandard unseres Sozialsystems und zentrale Richtschnur etwa für die Höhe von Sozialhilfe und Mindestpension – muss auf die Höhe der Armutsgefährdungsschwelle angehoben werden. Zweitens braucht es eine Erhöhung der Nettoersatzquote des Arbeitslosengeldes und eine Valorisierung der Notstandshilfe. Denn: Mehr als jede:r zweite Arbeitslose war 2023 armutsgefährdet. Und Drittens braucht es eine Reform der Sozialhilfe bzw. die Einführung einer neuen Grundsicherung, die einheitliche Mindeststandards definiert und sich an den konkreten Bedarfen der armutsbetroffenen Menschen orientiert.
Was halten Sie denn von Marlene Engelhorns Initiative, die sich im Sinn sozialer Gerechtigkeit für eine Reform der Steuerpolitik in Österreich einsetzt? Anders gefragt: Sind Sie für eine Vermögenssteuer, damit der Staat wieder Mittel in soziale Leistungen investieren kann?
Vermögensbezogene Steuern wie zum Beispiel die Erbschaftssteuer können ein sinnvoller Ansatz sein, vorausgesetzt, diese sind sorgfältig gestaltet. Die Festlegung von Freibeträgen und die genaue Ausgestaltung beispielsweise müssen in die Hände von Steuerexpert:innen gelegt werden. Als Caritas sehen wir uns dazu verpflichtet, auf die grundsätzliche Notwendigkeit einer solidarischen Gesellschaft hinzuweisen. Und da fällt auf: In Österreich herrscht eine deutliche Ungleichheit in der Besteuerung von Arbeit und Vermögen mit einer der niedrigsten Vermögensbesteuerungen im EU-Vergleich.
Sind angesichts der angespannten Lage Spendenrückgänge zu verzeichnen? Und wer sind aktuell die Spender:innen der Caritas?
Aktuell sind unsere Spender:innen die gleichen, die sie vor zehn oder 15 Jahren gewesen sind. Im Privatspendenbereich haben wir überwiegend ältere Menschen, also 50 plus. Sie stellen den größten Anteil am Spendenvolumen der Privatspenden. Junge Menschen sind auch dabei, wenn es um progressive Themen geht. Großspender:innen und Unternehmensspenden sind enorm wichtig, weil sie ebenfalls einen großen Teil zur Finanzierung unserer Projekte beitragen. Grundsätzlich können wir beobachten, dass die Spendenbereitschaft weiterhin hoch ist, aber der Bedarf an Hilfe größer geworden ist. Die Caritas selbst ist natürlich auch in den eigenen Projekten und Einrichtungen von der Teuerung betroffen und benötigt deswegen mehr Spenden.
Die Caritas arbeitet mit vielen ehrenamtlichen Mitarbeiter:innen aus Pfarren. Wird das Engagement vor dem Hintergrund steigender Kirchenaustritte weniger? Ist es in ländlichen Gebieten stärker als in der Großstadt?
Freiwilliges Engagement in Österreich unterliegt gesamtgesellschaftlichen Veränderungen: Der Trend geht von der langfristigen ehrenamtlichen Bindung hin zum kurzfristigen, episodischen Engagement, das dem Lebensabschnitt oder einem unmittelbaren Bedürfnis entspricht. Die Beteiligungsquote der Menschen in Österreich korreliert mit der Gemeindegröße – das heißt: Engagieren sich in Städten mit mehr als 100.000 Einwohnern beispielsweise 44 Prozent freiwillig, sind es in Gemeinden mit weniger als 2.500 Einwohnern 53 Prozent. Das Engagement im kirchlichen Bereich ist in Österreich zurückgegangen und gleichzeitig ist es im Sozial- und Gesundheitsbereich gestiegen. In der Caritas sind diese beiden Bereiche verwoben und es gibt regional sehr diverse Entwicklungen. Eines ist für uns aber ganz klar spürbar: Dort, wo Armut, Einsamkeit oder Not greifbar und konkret sind, finden und organisieren sich Menschen, die helfen und gestalten. Beispielsweise haben wir in den letzten Jahren in den Wärmestuben der Caritas Wien eine Vervierfachung der Freiwilligen erlebt.
Woke- wie Awareness sind in aller Munde, scheinen aber kaum verinnerlicht. Die Auseinandersetzungen verschärfen sich. Wie sehen Sie diese gesellschaftspolitische Entwicklung?
Es ist niemals – aber besonders nicht in einem Superwahljahr wie diesem – notwendig oder förderlich, dass Ängste verstärkt und wichtige Themen polemisch diskutiert werden. Sei es bei Themen wie Flucht und Asyl oder das Kleinreden subjektiver Armutserfahrungen. Die Demokratie braucht Information, Sachlichkeit und eine klare Wertehaltung in der Debatte. Hier gibt es in der öffentlichen Debatte definitiv noch Luft nach oben.
In ganz Europa fordert uns eine Politik der Spaltung und der Populisten. Die FPÖ, die die Caritas immer wieder attackiert, liegt aktuell im Umfragehoch. Wie wappnen Sie sich für den Wahlkampf?
Als Hilfsorganisation sind wir weder schwarz noch rot noch blau – sondern stehen im Auftrag jener Menschen, die benachteiligt sind. Unser Auftrag ist: Not sehen und handeln. Damit geht aber auch die Aufgabe einher, auf die Grund- und Menschenrechte hinzuweisen, wenn wir diese gefährdet sehen. Und wo es uns möglich ist, bieten wir Lösungen und unsere Mithilfe an. Sei es bei den Herausforderungen, die Migration und Flucht mit sich bringen. Oder wenn Menschen in unserer Gesellschaft am insgesamt guten Leben nicht teilhaben können. Entsprechend ist es auch unser Anliegen, mit allen Parteien im konstruktiven Austausch zu sein.
Sie haben auch Theologie studiert, sind mit einem laisierten katholischen Priester verheiratet. Wie empfinden Sie die Stellung der Frau in der katholischen Kirche? Geht da etwas weiter?
Tatsächlich gibt es in der Kirche bereits viele Frauen in Leitungspositionen. Und auch darüber hinaus haben Frauen in der Kirche durchaus viele Möglichkeiten, mitzugestalten. Potenzial gibt es noch, das Wirken von Frauen in der katholischen Kirche besser sichtbar zu machen.
Die Caritas Österreich ist weltweit in über 58 Ländern aktiv, in der Entwicklungshilfe wie in der humanitären Hilfe. Stellt die Republik da genügend Geld zur Verfügung? Und wie steht es mit der langfristigen finanziellen Absicherung?
In Österreich gab es in der aktuellen Legislaturperiode einige erfreuliche Entwicklungen. Der Auslandskatastrophenfonds ist von 15 Millionen im Jahr 2019 auf 80 Millionen Euro im Jahr 2024 erhöht worden, und es gab zusätzliche Mittel für dringend benötigte bilaterale Entwicklungszusammenarbeit vor Ort. Das sind Schritte in die richtige Richtung. Dennoch stellte Österreich 2023 nur 0,38 Prozent seiner Wirtschaftsleistung für öffentliche Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe zur Verfügung und liegt damit weit unter dem EU-Durchschnitt von 0,52 Prozent und noch weiter unter den international vereinbarten 0,7 Prozent. Zudem stagnierten die Entwicklungsgelder trotz weltweiter Krisen im Vergleich zum Vorjahr. Langfristig machen uns vor allem die Prognosen des Budgetdienstes mit sinkenden Beiträgen für Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe bis 2027 Sorgen. Angesichts der multiplen Krisen können wir an diese und eine künftige Bundesregierung nur einen dringenden Appell richten, diesen Trend rasch umzukehren. Im Interesse von uns allen sollten wir die Mittel steigern, nicht weiter einschränken.
Die Caritas ist nicht nur eine der größten Non-Profit-Organisationen Österreichs, sondern auch ein Riesenunternehmen, zu dem auch die carla-Shops und magdas Hotel zählen – alles sehr modern aufgeladen. Auch auf den Social-Media-Kanälen ist die Caritas top präsent. Wie wichtig ist das heutzutage?
Als Hilfsorganisation sind wir sowohl auf öffentliche Förderungen als auch auf Spenden von Unternehmen und Privatpersonen angewiesen. Und entsprechend stehen wir natürlich auch mit anderen Organisationen in einem gewissen Wettbewerbsverhältnis. Im Ergebnis bedeutet dies, dass wir unsere Arbeit auf der Höhe der Zeit ausführen müssen – und da gehören sowohl innovative Aktivitäten zur Ausführung unseres Organisationszwecks sowie eine moderne Kommunikation dazu. Gleichzeitig ist es uns ein Anliegen, dass unsere Kanäle auf Social Media jedenfalls auch als Anlaufstellen für Hilfesuchende dienen. Alleine schon deshalb ist es uns wichtig, die Kommunikation in diesen Netzwerken so benutzer:innenfreundlich und ansprechend wie möglich zu gestalten.
Die Caritas in Zahlen
Organisation der Caritas
Die römisch-katholische Hilfsorganisation Caritas ist eine der größten Non-Profit-Organisationen Österreichs. Genau genommen handelt es sich um neun eigenständige Organisationen in den Diözesen, die als Vereine fungieren.
Finanzen, Spenden und Subventionen
Laut Finanzbericht 2022 stammen 694 Millionen Euro des Caritas-Budgets aus öffentlichen Mitteln – das sind Entgelte für Dienstleistungen (Pflegeheime, Hospize), 125 Millionen Euro kommen aus privaten Kostenbeiträgen als Entgelte für Dienstleistungen. Weiters wird die Arbeit durch Spenden und Kirchensammlungen (137 Millionen) und Subventionen (137 Millionen) finanziert.
Einrichtungen der Caritas
Die Caritas erhält u. a. 71 Obdachloseneinrichtungen, zwölf Mutter-Kind-Häuser, 53 Senioren- und Pflegewohnhäuser sowie 71 Sozialberatungsstellen und unterstützt weltweit 550 Hilfsprojekte. Mit 17.694 angestellten plus 46.000 ehrenamtlichen Mitarbeiter:innen ist die Caritas ein Riesenunternehmen, zu dem auch die carla Secondhand Shops in Wien und Niederösterreich, und der Wirhelfen Onlineshop sowie magdas Hotel, Österreichs erstes Social-Business-Hotel, zählen.
Das Interview mit Caritas Österreich Präsidentin Nora Tödtling-Musenbichler stammt aus der trend. PREMIUM-Ausgabe vom 12. Juli 2024
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